Der Drache und das Albrechtshaus | Tagebuch eines Drachens - Teil 1

Gestatten, dass ich mich vorstelle: ich bin der Drache der Stieger Stabkirche. o.k.,o.k. - eigentlich bin ich nur ein Drachenkopf an einem langen Holzbalken. Von meinem Platz hoch oben in der Kirche kann ich alles genau überblicken. Früher konnte ich auch sehen, was draußen passiert ist, aber ich will von Anfang an erzählen.

Das Licht der Welt erblickte ich 1904 in der Werkstatt des Zimmerermeisters Witte in Osterwieck. Meister Witte hatte sich auf die "Fabrikation Nordischer Blockhäuser" spezialisiert und diese in ganz Deutschland gebaut.  Gern würde ich behaupten, dass ich ein außergewöhnliches Einzelstück bin, möchte aber halbwegs bei der Wahrheit bleiben. Wir Drachen stehen für Glück und Frieden und wurden für die Blockhäuser sozusagen in "Serie gefertigt",  aber ich bin doch etwas ganz besonderes, war ich doch für eine Kirche bestimmt. Und so kam ich zum Albrechtshaus...

 

20.05.1905 - Heute ist unser großer Tag! Mit "uns" meine ich natürlich meine Wenigkeit und meine Kirche. Sie ist endlich fertig, blitzblank geputzt und wartet auf die ersten Besucher. Wir erwarten hohen, sehr hohen Besuch. Prinzregent Albrecht kommt mit Vertretern der Kirche, die meine Kirche weihen werden. Jetzt wird die Tür aufgeschlossen. "Wo der Herr nicht das Haus bauet, bauen umsonst, die daran bauen" das war Meister Witte, jetzt aber Ruhe, der Posaunenchor spielt....

 

1935 -  In den letzten Jahren ist allerhand passiert. Regelmäßig kommen Kranke in den Gottesdienst, das Albrechtshaus ist schließlich eine Lungenheilstätte. Aus der Heilstätte wurde dann ein Krankenhaus. Neuerdings kommen auch kranke Kinder in die Kirche. Ich habe gehört, dass sie für die Kinder ein neues Haus gebaut haben - arme Kinder, sie haben sicher Heimweh, wenn ich könnte, würde ich sie trösten.

 

09.09.1939 -  Seit einer Woche ist Krieg, schon der zweite, seitdem ich hier bin. Das Albrechtshaus ist ab heute Reserve-Lazarett. Hoffentlich nicht lange.

 

Mai 1945 - Endlich Frieden, war eine schwere Zeit, auch für die Albrechtshäuser. Wir haben auch einen großen Verlust zu betrauern, unser Harmoniumspieler ist leider im April verstorben.

 

20.05.1955 - Heute möchte ich mich mal wieder melden. Schließlich haben wir Geburtstag, ein halbes Jahrhundert, wie sich das wohl mit 100 anfühlt?

 

1970 -  Das Interesse an meiner Kirche hat in den letzten Jahren merklich nachgelassen, in der DDR hat man es nicht so mit der Kirche. Es finden aber noch immer regelmäßig Gottesdienste statt. Besonders schöne Erinnerungen habe ich an die Trauungen in meiner Kirche, die Brautpaare sehen immer so wunderschön und glücklich aus.

...hätte ich bald vergessen, mein Dach musste neu gedeckt werden, die Holzschindeln waren langsam undicht geworden, schade, nun ist nicht mehr alles aus Holz. Außerdem haben sie gleich die beiden Schornsteine mit abgebaut.

 

01.10.1987 -  jetzt heißt das Albrechtshaus Sanatorium, sonst gibts nichts Neues.

 

Nov. 1993 -  Draußen ist viel geschehen. Die Menschen waren mächtig aufgeregt und auch in meiner Kirche ist viel passiert. Ständig war jemand da, ich habe "ABM" verstanden - was das wohl ist? Aber egal, man interessiert sich wieder für mich, pardon, für uns. Meine Kirche hat neue Farbe bekommen und eine schicke glänzende Dachrinne ringsherum, wahrscheinlich aus purem Gold! Dann haben sie alle Bänke rausgetragen und sich am Fußboden zu schaffen gemacht. Fußbodenheizung - wahrscheinlich so neumodisches Zeug, aber es wird jetzt schön warm, auch ohne Feuer. Mittlerweile ist alles wieder eingeräumt - viel schöner als vorher. Die Bänke sind frisch gestrichen und einen Blitzableiter haben wir auch bekommen. Auch ein paar der bunten Fenster wurden repariert.

 

31.12.1993 - Irgendetwas ist passiert. Es kommen kaum noch Menschen, auch draußen nicht. Kranke kommen schon lange nicht mehr. Ich glaube, auch alle anderen Menschen sind weg. Es ist ganz still geworden.

 

27.02.2003 -  Sind tatsächlich schon fast 10 Jahre vergangen? Ich glaube, ich war ein wenig eingenickt.

Draußen geht etwas vor sich. Jede Menge Menschen, auch von der Zeitung. Ich habe gehört, dass hier ein Hotel gebaut wird, heute ist Spatenstich, in zwei Jahren soll alles fertig sein - ich bin gespannt.

 

31.12.2003 - Die letzten Wochen waren ganz schön aufregend. Ständig waren Menschen da. Haben draußen aber jede Menge Krach gemacht und die alten Häuser abgerissen. Im Moment ist wieder Ruhe.

 

23.04.2005 - Heute war mal wieder ein schöner Tag für mich und meine Kirche. Endlich wieder Hochzeit, Sabine und Marko haben geheiratet. Alles Gute euch beiden, kommt mal wieder vorbei.

 

11.06.2005 - Vor ein.paar Tagen hatten wir unseren 100.Geburtstag. Ich dachte schon, dass sie uns vergessen haben, aber auf die Menschen ist Verlass. Es war fast wie vor 100 Jahren, sogar der Posaunenchor war wieder dabei, natürlich andere Menschen, denn sie werden ja nicht so alt wie wir Drachen. Alles war ganz feierlich.

 

31.12.2005 - Wieder ein Jahr vorbei. Komisch, eigentlich sollte doch alles fertig sein, sieht aber ganz und gar nicht danach aus. Im Gegenteil, draußen tut sich überhaupt nichts mehr, und jetzt weiß ich auch, wer daran Schuld ist - die Fledermäuse, die im Albrechtshaus wohnen! So ein Quatsch, hin und wieder verirrt sich mal eine in meine Kirche, aber die  tun wirklich nichts, würden bestimmt auch woanders wohnen, verstehe einer die Menschen!

 

2011 - Ich glaube, ich bin wieder eingeschlafen, war so still hier. Haben die mich vergessen?

Aber jetzt ist endgültig Schluss mit der Ruhe. Leider aber nichts Gutes. Ständig, oft auch nachts, kommen Menschen, die meine Kirche kaputtmachen. Zuerst haben die meine schöne goldene Dachrinne abgebaut. Sogar die bunten Fenster haben sie eingeschlagen - warum nur? Der Hausmeister wundert sich auch schon nicht mehr - er ist der einzige, der hier noch aufpasst, aber immer ist er auch nicht da.

Jetzt haben die anderen Menschen die Fenster zugemacht. In meiner Kirche ist es jetzt immer dunkel. Ich sehe nicht mehr, was draußen passiert, nur noch ein ganz kleiner Spalt ist übrig! Das Schlimmste hätte ich bald vergessen, meine Glocke ist weg, was ist eine Kirche ohne Glocke?

 

22.08.2013 - Es ist zwar Sommer, aber trotzdem ungewöhnlich heiß. Das Albrechtshaus brennt! Ein Drache hat ja keine Angst vor Feuer - aber meine schöne Kirche ist doch aus Holz. Und Holz und Feuer, das geht ja gar nicht! Wahrscheinlich hat unser letztes Stündlein geschlagen, ade schöne Welt.

Ende Teil I

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